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Lou Andreas-Salomé

 

Die Werke von Lou Andreas-Salomé

Gedichte:

 

Altrussland

Du scheinst in Mutterhut zu ruhn,
Dein Elend kaum noch zu begreifen,
So kindhaft scheint noch all Dein Tun,
Wo andre reifen.

Wie stehn Dir noch die Häuser bunt,
Als spieltest Du sogar im Darben:
Rot, grün, blau, weiß auf goldnem Grund
Sind Deine Farben.

Und doch: wer lang darauf geschaut,
Enthält ehrfürchtig sich des Spottes:
Ein Kind hat Rußland hingebaut
Zu Füßen Gottes.

 

Du heller Himmel über mir

Du heller Himmel über mir,
Dir will ich mich vertrauen:
Laß nicht von Lust und Leiden hier
Den Aufblick mir verbauen!

Du, der sich über alles dehnt,
Durch Weiten und durch Winde,
Zeig mir den Weg, so heiß ersehnt,
Wo ich Dich wiederfinde.

Von Lust will ich ein Endchen kaum
Und will kein Leiden fliehen;
Ich will nur eins: nur Raum - nur Raum,
Um unter Dir zu knieen.

 

Durch Dich

Was nur das Leben faßt an Allgewalten -
Durch Dich allein ergriff es mein Gemüt,
Zugleich in Leidenschaft und Händefalten,
Hab ich in Dir vor Gott gekniet.

Durch Dich allein auch ist die tiefste Wunde
Auf immer meinem Leben eingebrannt,
Da ich, in vergeßlich dunkler Stunde,
Im Gott das Menschenbild erkannt.

Hab Dank für alles, was Du mir gegeben!
Das Höchst' und Tiefste, das wir Menschen haben -
Durch Dich ward's mein in schweigendem Erleben:
Den Gott zu schau'n - und zu begraben.

 

Lebensgebet

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich dich liebe, Rätselleben -
Ob ich in dir gejauchzt, geweint,
Ob du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe dich samt deinem Harme;
Und wenn du mich vernichten mußt,
Entreiße ich mich deinem Arme
Wie Freund sich reißt von Freundesbrust.

Mit ganzer Kraft umfaß ich dich!
Laß deine Flammen mich entzünden,
Laß noch in Glut des Kampfes mich
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!
Schließ mich in beide Arme ein:
Hast du kein Glück mehr mir zu schenken
Wohlan - noch hast du deine Pein.

 

Märzglück

An kahlen, windverwehten Zweigen
Hängt letzter Märzschnee feucht und weich,
Ich schreite wie durch Märchenreich
Hinein in abenddunkles Schweigen.

Hell tönt aus tiefen Waldesgründen
Das Zwitschern einer Meise nur,
Wie Selbstverheißung der Natur:
Ein Ruf, ein Gruß, ein Frühlingskünden.

Als müßte sie einen Boten schicken
Um den man Frost und Schnee vergißt,
Bis einen Frühling, der nicht ist,
Die Augen traumbetört erblicken.

Nun! Darf er nie mehr mich betören -
Dies Märzglück doch soll mir geschehen:
In Winterlandschaft stillzustehn
Um einen Lenzruf anzuhören.

 

Todesbitte

Lieg ich einst auf der Totenbahr
- ein Funke, der verbrannt -,
Streich mir noch einmal übers Haar
Mit der geliebten Hand.

Eh' man der Erde wiedergibt,
Was Erde werden muß,
Auf meinen Mund, den Du geliebt,
Gib mir noch Deinen Kuß.

Doch denke auch: im fremden Sarg
Steck ich ja nur zum Schein,
Weil sich in Dir mein Leben barg!
Und ganz bin ich nun Dein.

 

Wolga

Bist Du auch fern: ich schaue Dich doch an,
Bist Du auch fern: mir bleibst Du doch gegeben -
Wie eine Gegenwart, die nicht verblassen kann.
Wie meine Landschaft liegst Du um mein Leben.

Hätt ich an Deinen Ufern nie geruht:
Mir ist, als wüßt ich doch um Deine Weiten,
Als landete mich jede Traumesflut
An Deinen ungeheuren Einsamkeiten.